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01.04.24///HIER KOMMT DER ERSTE VON MEHREREN TEILEN "BÄRCHENBROT" – DAS PREQUEL ZU "TIGERMILCH" (WIRD HIER AB JETZT JEDEN MONTAG GEPOSTET AUF SPENDENBASIS):


Alle deutschen Brote gleichen einander, aber bei uns in der Siedlung backt und isst jede Familie ihr Brot auf eigene Weise.
Die türkischen Familien essen dicke, weiße Fladenbrote. Sie kaufen sie bei Öz Ege unten neben der Eisdiele am Sozialpalast. Die Brote werden in große orangefarbene Plastiktüten gepackt. Orkhan und Tayfun gehen oft mit ihrem Vater zusammen Brot kaufen. An den Freitagen gehen sie erst zur Schule, dann zur Moschee und danach in die Bäckerei. Ich kann das jeden Freitag vom Fenster aus sehen, es ist mein Freitagsbild, dann weiß ich immer es ist Wochenende. Aber Onkel Gökan kauft auch an den anderen Tagen frisches Fladenbrot. Gökan, so heißt Orkhans und Tayfuns Vater, und ich darf Onkel Gökan zu ihm sagen, weil er mich schon kannte, als ich noch flüssig war, sagt er. Fladenbrot muss man nämlich ganz frisch essen, es hält sich nicht wie deutsches Brot, das erst einmal ein bisschen liegen muss, und eigentlich erst am nächsten Tag richtig gut schmeckt. Fladenbrot schmeckt am nächsten Tag nicht mehr, das heißt doch, aber nicht nach Brot, sondern nach allem möglichem, Schrank oder Shisha-Bar, je nachdem wo es den Tag über gelegen hat, deswegen bleibt fast nie was davon übrig.
Die marokkanischen Familien essen ganz ähnliche Fladenbrote wie die türkischen. Dick und groß, aber die Mutter von Najat und Farida backt ihr Brot selbst. An manchen Sonntagen riecht der ganze Sozialpalast nach Brot, dann wissen alle, Frau Amhamdi backt. Sie backt Fladenbrot, aber auch ein süßes Gebäck. Wenn es das gibt, kriege ich immer was ab. Najat und Farida klingeln dann bei mir, weil sie wissen, das ich es liebe. Komm runter, es gibt Sib, flüstern sie durch die Sprechanlage. Sib, so nennen wir das süße Gebäck, aber wenn Frau Amhamdi das wüsste, würde wir richtig Ärger kriegen. Sib heißt nämlich was Versautes auf Marokkanisch.
Merschad und Vahids Eltern backen Brot auch selbst, aber nicht jeden Tag, nur bei besonderen Anlässen oder wenn es was zu feiern gibt. Es ist auch wirklich ein besonderes und auch sehr kompliziertes Brot. Man braucht ganz glatte und saubere Kieselsteine dafür, die findet man nicht einfach auf der Straße, zumindest nicht bei uns, das ist ja hier kein Strand. Herr Chamani kauft für sein besonderes Brot bei Hellweg Kieselsteine, solche die eigentlich in ein Aquarium kommen. Kommen sie aber nicht, sondern auf ein Backblech, und darauf kommt der Teig. Das Brot wird auf Kieseln im Ofen gebacken. Außen ist es knusprig und innen weich. Ich muss zugeben, es ist eins der besten Brote aus der Siedlung. Merschads und Vahids Eltern legen sehr viel Wert auf Brot, überhaupt auf Essen, vielleicht gehört ihnen deswegen ein Reformhaus. Ein Reformhaus ist sowas wie ein Bioladen, nur dass es dadrin noch seltsamer riecht, als in dem Bioladen auf der Hauptstraße, das meinte Jameelah als ich sie irgendwann mal gefragt habe, was das überhaupt sein soll, ein Reformhaus, und dann hat Amir uns gefragt, ob mir auch aufgefallen ist, dass Vahids Hände manchmal ganz gelb sind. Ja klar, habe ich gesagt, und war froh, dass jemand das endlich mal anspricht, und da meinte Jameelah, das kommt vom Karottensaft, wenn du so viel Karottensaft in dich reinkippst wie Vahid, wirst du irgendwann gelb, ist doch logisch.
Bah, meinte ich nur, ist das nicht ungesund?
Klar! Siehst du doch, so eine Hautfarbe, das ist doch nicht normal, das kann doch nicht gesund sein, so viel Karottensaft, wer braucht das denn, meinte Jameelah, wenn das so gut wäre, dann würde es auf der Welt statt Wasser doch Karottensaft geben. Stell dir mal vor wie anders die Welt dann aussehen würde, stelle es dir einfach nur mal vor, und ich habe es mir vorgestellt, und alles wurde plötzlich ganz orange. Die Flüsse und die Ozeane, selbst das Wasser im Freibad.
Ich überlege, was es bei Amir zu Hause für ein Brot gibt. Mir fällt es nicht ein. Ich esse nie bei Amir. Manchmal kommt es mir so vor, als würden sie dort alle ohne Essen durchs Leben kommen. Doch, Jasna isst Waffeln bei diesen beiden Frauen. Sie sind Schwestern, und sie haben einen Waffelladen unten neben der Eisdiele. Zimt und Zucker, so heißt der Laden, nicht die Frauen. Amir und Tarik essen manchmal diese Nudelsuppe, die es bei Öz Ege gibt, heiß löffeln sie die Suppe aus den hohen quadratischen Plstikschalen. Wenn ich genau überlege sogar ziemlich oft. Ständig sehe ich sie dort draußen vor der Auslage auf den Bierbänken sitzen und Suppe schlürfen. Oder Süßes essen, vor allem Tarik. Mit Achtzehn sollte man doch langsam genug haben von so viel Süßem, sagt Mama und dass Tarik immer noch ein halbes Kind ist, deswegen. Ich weiß nicht, was das heißen soll, ich glaube etwas Schlechtes, dabei ist das doch gut, ich meine, was soll daran so schlimm sein noch ein halbes Kind zu sein, ich bin ja sogar noch ein ganzes, ist das dann etwa doppelt schlimm, frage ich mich. Jedenfalls weiß ich nicht, was Tarik und Amir zu Hause für ein Brot essen. Vielleicht habe ich es auch nur vergessen, ich kann sie mir nicht alle merken, alle Nachbarn und auch noch deren Brote. Es gibt so viele Brote. Es gibt kleine und große Brote, dicke und dünne Brote, es gibt schwarze und weiße Brote, es gibt graue Brote, und einmal habe ich sogar ein Regenbogenbrot gesehen, das war die Lebensmittelfarbe, das war als wir einmal Brot bei United Neighbours gebacken haben. Es gibt berühmte Brote wie Ciabatta, aber hier wohnen keine Italiener. Der Mann von der Eisdiele an der Hauptstraße ist in Wirklichkeit Syrer, auch wenn er immer Signorina zu mir sagt. Es gibt berühmte Brote wie Baguette, aber ich kenne auch keinen Franzosen. In unserer Siedlung leben keine, die einzigen, die hier Französisch sprechen sind die Afrikanerinnen, die zum Crellemarkt herkommen. Ich glaube, sie essen kein Brot, höchstens mal eine Schrippe, wenn sie Heißhunger haben, während sie auf den Bus warten. An ihren Beinen baumeln schwere Plastiktüten, da schauen riesige Früchte in Styroporgittern heraus und grüne Bananen, die viel größer sind als die normalen gelben. Normal, was heißt das schon. Vielleicht ist es mit den Bananen auf der Welt genauso wie mit den Broten.
Bei Jameelah gibt es kein arabisches Brot zu essen, ich meine, diese flachen dünnen Fladen, in die man was hinein macht und dann zusammenrollt. Es gibt immer deutsches Brot zu essen, Vollkornbrot mit jeder Menge Körnern drin und einer dicken Kruste, die ordentlich kracht wenn du hineinbeißt. Das deutsche Brot ist das Beste, sagt Noura immer, und dass die Deutschen berühmt sind für ihr Brot und sie sogar leiden, wenn sie im Ausland sind, weil das Brot nirgendwo so gut schmeckt wie in Deutschland. Ich weiß das nicht, ich war noch nie im Ausland, nur mal an der Ostsee, aber das hat sich auch schon angefühlt wie Ausland. Dieser Geruch nach Fisch. Ich mag keinen Fisch. Rainer hat mich angeschaut und den Kopf geschüttelt. Fisch ist gesund, hat er gesagt und mir sein Fischbrötchen unter die Nase gehalten. Ich konnte seine Zahnabdrücke sehen, nicht die vom Fisch, ich meine die von Rainer, sein unregelmäßiges Gebiss überall auf dem Brötchen und dem Fischfilet, es glänzte ganz blau wie Schimmel, und gerochen hat es, dafür gibt es überhaupt gar keinen Ausdruck. Was weiß du denn schon von Ernährung, habe ich gedacht, Tiefkühlpizza und Fußball, von was anderen hat Rainer doch eh keine Ahnung. Bei uns gibt es Toastbrot und manchmal sonntags Brötchen. Mama backt nicht, und Rainer, der weiß nur wie der Ofen angeht, und vergisst manchmal sogar die Plastikfolie von seiner Pizza abzumachen, bevor er sie aufbäckt. Noura ja. Noura backt Kuchen und an Weihnachten Plätzchen, sie kann sogar Pfannkuchen backen, also Berliner, das hat sie bei United Neighbours mal gelernt.
Noura backt aber ein anderes Brot, kein arabisches und auch kein deutsches, kein Brot, das aus einem Land kommt oder in irgendeinem Laden zu kaufen ist, in keinem Land der Welt kann dieses Brot gekauft werden, denn das Brot kommt aus Nouraland. Als ich mit den viel zu glatten Ballerinas auf dem Schulhof hingeknallt bin und mir mein Knie so schlimm aufschlug, dass das Fleisch vom Knochen klaffte, habe ich es gegessen. Ich habe es die vielen Abende gegessen, an denen Jameelah und ich in Nouras Schlafzimmer unter der dicken Decke Findet Nemo oder Das letzte Einhorn geschaut haben, weil wir uns vor dem Gewitter draußen fürchteten, und als Mama mir zum ersten Mal richtig eine gescheuert hat, da habe ich es auch gegessen. Ich weiß, ich bin die Treppen runter gerannt, Mama hat mir noch hinterher gerufen, tut mir leid, aber ich bin nicht stehen geblieben, ich bin gerannt, auf die Straße und dann über den Spielplatz, bis vor Jameelahs Haus, dort habe ich Sturm geklingelt. Noura hat aufgemacht und mich auf den Schoß genommen. Sie hat mir mit Küchenrolle das Gesicht abgewischt, dann hat sie Hefe, Wasser, Mehl und Zucker aus dem Schrank geholt und zu einem Teig geknetet. Anschließend hat sie den Teig für eine halbe Stunde neben der Heizung hochgehen lassen. Sie hat eine Tüte Gummibärchen aus dem Schrank geholt, und als der Teig schon doppelt so hoch war hat sie die Gummibärchen in den Teig geknetet und am Ende eine lange Schlange daraus geformt. Sie hat die Teigschlange aufs Backblech gelegt und sie zu einer Acht gedreht. Sie hat die Acht mit Wasser bestrichen und in den Ofen geschoben, und dann haben Jameelah und ich nebeneinander vor dem Ofen gehockt und dabei zugeschaut wie das Brot langsam hochging und braun wurde, bis Noura uns vom Ofen weggescheucht und die Tür geöffnet hat. Eine warme Wolke kam heraus und dann das Brot. Noura hat das Blech auf den Tisch gestellt, und dann hat sie es noch ganz warm für uns in Stücke geschnitten, das noch warme, weiße Brot und dazwischen die bunten, warmen Bärchen. Sie blieben zwischen den Zähnen kleben und am Gaumen, überall blieben die Bärchen kleben und das Brot. Süßer Zement. Wenn du so etwas runterschluckst wird es im Bauch ganz groß. So groß, da bleibt kein Platz mehr für was anderes. Für Sorgen oder Tränen. Da ist nur dieses Brot und das Gefühl, noch nie so satt im Leben gewesen zu sein.
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Hier könnt Ihr was für Bärchenbrot spenden*


04/24 "HUND STATT MANN" @REPUBLIK MAGAZIN

Sind Hunde die besseren Partner? Der Frage bin ich am für das Schweizer Magazin Republik nachgegangen – nachzulesen hier.

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Foto: Renke Brandt

03/24 PRESSESCHAU/LEIPZIGER BUCHMESSE

Denis Scheck mit "Best of Druckfrisch 2024": https://www.mdr.de/kultur/buchmesse/denis-scheck-buecher-tipps-druckfrisch-100.html

Rezension in Der Spiegel vom 8.3.2024: https://www.spiegel.de/kultur/literatur/das-gras-auf-unserer-seite-von-stefanie-de-velasco-liebe-ist-fuer-den-hund-a-bbb82716-ea2a-43e1-a8ed-5bffa21d04f5

ARD-Literaturbühne: https://www.mdr.de/video/mdr-videos/c/video-809410.html

RBB-Kultur: https://www.rbb-online.de/rbbkultur/radio/programm/schema/sendungen/der_morgen/archiv/20240306_0600/literatur_0845.html

WDR 5: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/buecher/auf-meinem-nachttisch/amanda-andreas-100.html

SRF: https://www.srf.ch/kultur/literatur/mutterschaft-in-der-literatur-wenn-muttersein-nicht-gluecklich-macht-drei-buecher-zum-thema

SWR "Lesenswert": https://www.swr.de/swr2/literatur/stefanie-de-velasco-das-gras-auf-unserer-seite-swr2-lesenswert-kritik-2024-03-28-100.html

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02/2024 PUBERTÄT NUR RÜCKWÄRTS

Warum kapiert das bloß keiner? Nach der Menopause geht’s für die Frau noch mal richtig los. Ein Text geschrieben und als Podcast gesprochen von Stefanie de Velasco (Dieser Text ist aus DUMMY N° 81 zum Thema: Verlangen. Das unabhängige Gesellschaftsmagazin erscheint alle drei Monate mit neuem Thema und neuem Design. Zu bestellen auf www.dummy-magazin.de)

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11/23 DAS GRAS AUF UNSERER SEITE
Mein neuer Roman erscheint am 7.3.2024

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https://www.kiwi-verlag.de/buch/stefanie-de-velasco-das-gras-auf-unserer-seite-9783462005738